Preisträgerin des Chargesheimer-Stipendiums 2021
Laudatio, vorgetragen von Leonie Radine
Die diesjährige Jury des Chargesheimer Stipendiums für Medienkunst – namentlich Deren Ercenk, Heide Häusler, Phil Collins und ich, Leonie Radine – gratuliert herzlich Karen Zimmermann, deren Werk uns alle nachhaltig berührt und begeistert hat.
Die Pandemie hat die Voraussetzungen unseres Zusammenseins fundamental verändert. Gefühle von Abgeschiedenheit, Trennung, Verlust und Melancholie sind allgegenwärtig, doch leichter zu bewältigen, wenn sie im Netz einer Kollektiverfahrung aufgefangen werden. Solidarität, Fürsorge und Allianzen zeigen sich in diesen Krisenzeiten umso mehr als Grundvoraussetzungen für eine funktionierende Gesellschaft. Das führt uns gleich zum Kern des Werks von Karen Zimmermann, der es gelingt, individuelle Befindlichkeiten kollektiv zu inszenieren und diese zugleich humorvoll und überaus einfühlsam zur Darstellung zu bringen. Beziehungen und Intraaktionen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Entitäten wie Pflanzen, Technologien, Räumen und Objekten stehen im Zentrum ihres Werks. Nach ihrem 2015 abgeschlossenen Kommunikationsdesignstudium studierte die 1986 in Iserlohn geborene Künstlerin bis 2020 an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Ihre Installationen, Performances und Videos waren in den letzten Jahren unter anderem im Marres Huis voor Hedendaagse Cultuur in Maastricht, im PACT Zollverein in Essen, auf der Ruhrtriennale in Bochum, der Videonale in Bonn und im Kölner Kunsthaus Rhenania zu sehen. Als Performerin und Bühnenbildnerin war sie zum Beispiel an Projekten von Jérôme Bel im Tanzhaus NRW oder Susanne Sachse und Xiu Xiu in der Kaserne Basel und den Münchener Kammerspielen beteiligt. Allein diese biografischen Angaben geben Aufschluss über ihre interdisziplinäre und kollaborative Praxis.
An den Schnittstellen zwischen Architektur, Design, Fotografie, Video, Sound, Text und Performance schafft Karen Zimmermann Infrastrukturen für Gemeinschaft und entwickelt prozessorientierte Choreografien. Viele Arbeiten wirken wie "auf Probe", als seien sie im Übergang begriffen: nicht nur zwischen verschiedenen Werkformaten, sondern auch zwischen realen und fiktiven Identitätskonstruktionen und Erinnerungsräumen.
Unsere Mütter kennen uns meist am besten, sie bergen unsere Geheimnisse und können potenziell etliche Geschichten erzählen, die uns in Verlegenheit bringen. Aber inwiefern beeinflussen die persönlichen Erinnerungen und Alltagserfahrungen unserer Mütter unsere individuellen Handlungen? In ihrem aktuellen performativen Filmprojekt "The System of the Garden" stellt Karen Zimmermann gemeinsam mit ihrem Partner Danila Lipatov die Prämissen ihrer kindlichen Sozialisation auf die Probe. Kurz vor Ausbruch der Pandemie bezogen die beiden ein Reihenhaus mit Garten in Münster. Aus der Isolation heraus beginnen sie, die allwöchentlichen Telefonkorrespondenzen mit ihren Müttern in Remscheid und Moskau als eine Art abstrakten psychologischen Überbau für ihre Performance zu begreifen. Das durch eine hohe Hecke geschlossene "System eines Gartens" – als Paradebeispiel domestizierter Natur – wird in diesem künstlerischen Experiment zur Bühne, auf der Subjektivität vor dem Hintergrund ineinandergreifender häuslicher und familiärer Ordnungen ausgehandelt wird. Mitunter schonungslos direkt, aber durch eine robuste feministische Linse, thematisiert Zimmermann in ihren Werken diverse mit Geschlecht, Herkunft oder Körperformen verbundene Zuschreibungen in sozialen Räumen. Dabei beweist sie ein sehr intuitives Gespür für kulturelle Codes, die vereinen aber auch entzweien und ausgrenzen können. Während die Drohnenaufnahmen in "The System of the Garden" an Überwachungstechnologien oder auch die Ästhetik banaler Reality-TV-Formate erinnern mag, finden sich auch in ihrem Diplomprojekt "The Mother With One Arm" diverse popkulturelle Referenzen. Diese raumgreifende Videoarbeit ist beispielhaft für ihre künstlerische Verwandlung vertrauter, fast trivialer Erfahrungen in atmosphärische Autofiktionen. Sie erzählt von Liebeskummer und Heimweh in Teenagerjahren im Internat – in einer Zeit, als Kylie Minogue Werbung für H&M-Dessous machte und in ihrem Musikvideo leicht bekleidet durch einen Club tänzelte und einen Mann besingt, der ihr nicht aus dem Kopf geht. Zimmermann greift den bekannten Popsong auf, doch transponiert ihn ein paar Töne tiefer und lässt ihn von mehreren Stimmen gleichzeitig in reduziertem Tempo einsingen. Der einst so dynamische Ohrwurm erklingt wie der melancholisch-monotone Soundtrack einer von stereotypisierten Frauenbildern und Schönheitsidealen ermüdeten Generation.
Zimmermanns Arbeiten kreieren filmische und performative Räume zwischen vertrauter Alltäglichkeit und (alb)traumhaften Sphären. In ihnen verdichtet sich nichts weniger als die Ironie des Lebens selbst, und dies auf sehr feinsinnige und ästhetische Weise.
verfasst von: Leonie Radine - Museum Ludwig