Preisträger des Bernd-Alois-Zimmermann-Stipendiums 2021

© Daniel Poštrak
Professorin Barbara Maurer, Laudatorin

Laudatio, vorgetragen von Professorin Barbara Maurer

 

"Zero gravity, no control. All systems shutting down. Pressure level is rising to a dangerous level."

Mit einem heftigen Schlag ins Klavier beginnt das Ensemblestück "Zero Gravity" von Tom Belkind. In den Vocoder hinein, einen Apparat, der die menschliche Stimme verändert wiedergibt, singt der Keyboard-Spieler den hier im Titel genannten Text, jetzt nur noch ahnbar im verzerrten Klanggewebe des Ensembles. Der Klang von Panik und Chaos wird abrupt abgelöst durch Zischklänge, rhythmisches Klicken und gedämpfte Schläge, um dann wieder im Lärm unterzugehen. Plötzlich befindet man sich in einer gleißenden Glissandowelt: Die Streicher gleiten durch die Register, und die Saiten des Klaviers werden mit dem Gummi eines Fahrradschlauches angerieben. Diese Zustände verändern sich plötzlich, und mit einer breiten Palette von Klängen wird ein Gefühl von extremer Überlastung gezeichnet, das schließlich zum Kollaps des Systems führt. Kurze Einspielungen von Zitaten wie zum Beispiel Walstimmen, Musik von Tschaikowsky, Hip-Hop-Tunes und andere Popmusik sind in ein komplexes Gewebe integriert und verdeutlichen die Zustände von Verwirrung und Überforderung. Klangideen jagen einander und verstören. Plötzlich dann eine kurze Phase, in der, wie der Komponist schreibt, eine "Rückkehr zu einer Art von Taubheit" stattfindet. "Störende Ticks im Kopf, die sich mit der Zeit zu einem rhythmischen Groove herauskristallisieren" kommen in den Vordergrund. Doch die Welle des Chaos durchdringt auch diesen Zustand, der sich in Schreien entlädt und in einem skurrilen und unwirklichen Klang mündet, erzeugt vom Keyboard. Dazu verfremdete, schrille Stimmklänge in verschiedenen Lagen - eine beängstigende Kadenz.

Der 1990 in Israel geborene Tom Belkind kam vor einem Jahr nach Köln, um sein Masterstudium in der Klasse von Miroslav Srnka an der Hochschule für Musik und Tanz Köln zu absolvieren. Dabei zog ihn das lebendige Musikleben der Stadt Köln an, und er beabsichtigt, hier dauerhaft den Standort seines kreativen Schaffens aufzubauen. Belkind begann in Israel als Komponist und Arrangeur populärer Musik und arbeitete als Aufnahmetechniker für Musikproduktionen verschiedener Stilrichtungen. In relativ spätem Alter erst entdeckte er die klassische, insbesondere die zeitgenössische Musik und war fasziniert von den in ihr liegenden Möglichkeiten. Seine drei zur Bewerbung für das Bernd-Alois-Zimmermann-Stipendium eingereichten Werke sind recht jungen Datums und haben trotz der Pandemie in letzter Zeit schon eine Aufführung beziehungsweise Aufnahme erlebt. Sie sind ganz unterschiedlichen Charakters, und es fällt auf, wie rasant sich seine musikalische Sprache entwickelt.

Tom Belkind verfügt über einen großen Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten und versteht es, dieses breite Spektrum, besonders im oben beschriebenen Werk, "Zero Gravity", sinnfällig, kohärent und wirkungsvoll einzusetzen. Er interessiert sich für den Klang in Bezug auf Energie, Intensität und Dichte. Er versteht es, Klang so zu formen und zu gestalten, dass er eine physische und fast haptische Eigenschaft bekommt. Seine Partituren sind verblüffend klar gestaltet. Gerade den klanglichen Eigenschöpfungen verhilft erst die handwerklich gekonnte, eindeutige Notation zu Lebendigkeit und expressiver Wirkung. Gleichzeitig ist bei Belkind immer eine innere künstlerische Notwendigkeit spürbar, drängender Expressivität Raum zu verschaffen. Er verfügt über einen starken künstlerischen Ausdruckswillen und eine reiche Palette im Umgang mit Instrumenten und Stimmen. Die menschliche Stimme ist in jedem seiner Stücke präsent. Häufig steigert sich die aufgebaute musikalische Energie in stimmliche Extreme, die in die instrumentale Textur integriert sind. Dadurch werden die Ausführenden körperlich präsent und erlangen eine gleichsam theatrale Präsenz.

Es ist interessant, dass Tom Belkind von der Popmusik, wo er auch als Sänger und Gitarrist tätig war, seinen Weg in die experimentelle Musik gefunden hat. Offen ist, und sicher spannend zu verfolgen, wie sich Tom Belkind weiter entwickeln wird. Wir wünschen ihm, dass dieses Stipendium ihm den Raum gibt, noch weitere Möglichkeiten wie zum Beispiel die des Musiktheaters oder ganz unerwartete, eigene, individuelle Formen auszuprobieren. Mit Tom Belkind wird eine Künstlerpersönlichkeit gefördert und ausgezeichnet, die das Musikleben der Stadt Köln - und weit darüber hinaus - nachhaltig bereichert.

verfasst von: Professorin Carola Bauckholt und Professor Manos Tsangaris