Positionspapier des Integrationsrates Köln
Selbstverständlich ist und bleibt die deutsche Sprache unsere zentrale gemeinsame Verständigungssprache. Allerdings sollte die mitgebrachte Herkunftssprache eines Kindes mit Migrationshintergrund nicht vernachlässigt, sondern gezielt gefördert werden.
In früheren Zeiten war es geradezu zwangsläufig, dass Zugewanderte, zum Beispiel im 19. Jahrhundert aus Polen, ihre Herkunftssprachen im "neuen" Land irgendwann vergaßen und ausschließlich deutsch sprachen. In heutigen Zeiten des Internets und Satellitenfernsehens, des schnellen und preiswerten Reisens und vor allem der wirtschaftlichen Globalisierung bleiben die Herkunftssprachen in ganz anderer Weise aktuell.
Vor diesem Hintergrund ist es zielführend, Mehrsprachigkeit auf der Grundlage der natürlichen Herkunftssprachen aktiv zu fördern. Dies ist nicht nur ein Akt praktischer Willkommenskultur, sondern auch ein auf die Zukunft ausgerichtetes Gebot der Stunde.
Folgende Gründe sprechen dafür:
Die Mehrsprachigkeit ist europa- und weltweit in den meisten Ländern der Normalfall
Der weitaus größte Teil der Menschheit wächst mehrsprachig auf und lernt im Kindesalter mehrere Sprachen mühelos. Bisweilen herrscht in den europäischen Ländern, insbesondere in den großen, vermeintlich einsprachigen Ländern noch die Meinung, Mehrsprachigkeit sei ein Ausnahmefall. Das Gegenteil ist der Fall. Die großen Länder der Europäischen Union (zum Beispiel dänisch und sorbisch in Deutschland, baskisch und katalanisch in Spanien et cetera) sind genauso wenig einsprachig wie die kleineren (zum Beispiel Schweiz, Belgien et cetera).
Die gezielte Förderung der mitgebrachten Herkunftssprache der Kinder begünstigt das Erlernen der deutschen und später weiterer Sprachen
Die hohe Bedeutung der Herkunftssprachen der Kinder mit Zuwanderungsgeschichte bei Sprachlernprozessen ist bereits lange sprachwissenschaftlich erwiesen, wird jedoch leider immer noch unterschätzt. In verschiedenen Studien (Hans-Joachim Roth und andere) wird nachgewiesen, dass eine differenzierte mündliche und schriftliche Beherrschung der mitgebrachten Herkunftssprachen die beste Voraussetzung für das Erlernen einer Zweitsprache (zum Beispiel Deutsch) ist. Von Anfang an mehrsprachig orientierte Kinder erwerben ein differenziertes Bewusstsein von Sprache und verfügen dadurch über eine andere und weniger regelorientierte Art beim Erlernen weiterer Sprachen (Claudia Riehl und andere). Kindern fällt es sogar besonders leicht, nicht nur eine, sondern auch mehrere Sprachen zu lernen, da sie dies "spielerisch" tun. Kindergärten und Schulen sollten diesen Effekt der Bildung eines frühen sprachlichen Bewusstseins von Anfang an durch eine frühe Förderung der natürlichen Mehrsprachigkeit nutzen, statt später viel Mühe und Geld zur Vermittlung von Fremdsprachen zu investieren.
Die Wertschätzung der Herkunftssprache eines Menschen ist gleichzeitig die Wertschätzung der Identität eines Menschen - dies gilt in ganz besonderer Weise bei Kindern und Heranwachsenden
Die Herkunftssprache ist elementarer Ausdruck kultureller Identität und Zugehörigkeit eines Menschen. Die eigene Identität verbergen oder verleugnen zu müssen macht krank - gelingende Integration setzt voraus den ganzen Menschen zu akzeptieren. Das bisherige Dogma "hier wird deutsch gesprochen" bei Eintritt des Kindes in Kindergarten oder Grundschule ist ein grober pädagogischer Fehler und verletzt die kindliche Seele und Identität zutiefst. Es entsteht für das Kind der Eindruck ein wesentlicher Teil seiner Selbst werde abgelehnt. Ein Willkommen der Familiensprache stärkt das Selbstbewusstsein und die Selbstachtung des Kindes. Diese mehrsprachigen Kinder müssen eine Anerkennung für ihre sprachlichen Kompetenzen erfahren und dürfen nicht auf ein "Kind mit Sprachdefiziten in der deutschen Sprache" reduziert werden. Möglicherweise verfügen diese Kinder bereits über zwei Sprachen und lernen in der Schule als dritte Sprache ihre "1. Fremdsprache" (zum Beispiel Englisch, Französisch et cetera).
Die mitgebrachte Herkunftssprache eines Kindes sollte nicht vernachlässigt, sondern gezielt gefördert werden
Kinder mit Zuwanderungsgeschichte sollten von Anfang an die Möglichkeit bekommen ihre mitgebrachte Herkunftssprache weiter gut zu lernen. Kindergärten spielen bei diesem Sprachlernprozessen bekanntlich eine elementare Rolle. Es wäre eine, Verschwendung bereits vorhandenen Sprachpotentials, den Kindern nicht die Möglichkeit zu geben, ihre Muttersprache im Kindergarten weiter zu vervollkommnen, um dann später in der Schule Schreiben beziehungsweise die Grammatik zu erlernen. Diese Form einer frühen Mehrsprachigkeit überfordert auch kleine Kinder nicht, wenn gewisse Regeln eingehalten werden. Wichtig ist zum Beispiel, dass eine Bezugsperson mit den Kindern immer in der gleichen Sprache spricht und nicht zwischen den Sprachen wechselt - auch 1:1 Regel genannt (Eine Person spricht eine Sprache).
Die Kindergärten und Schulen sind bereits ‚mehrsprachig‘ – diese Sprachrealität muss anerkannt und das vorhandene Sprachenpotential genutzt und gefördert werden
Laut einer OSZE-Studie aus dem Jahr 2015 ist der Anteil erlernter und genutzter Sprachen im Ländervergleich in Deutschland am geringsten. In den Schulklassen lernen heute gemeinsam Schüler*innen, die Deutsch, Türkisch, Polnisch, Italienisch, Russisch, Arabisch oder viele andere Sprachen als Muttersprache bereits sprechen. Diese vielsprachige Realität bildet die natürliche Ausgangslage für die Bildungseinrichtungen; diese sollten die Chance nutzen und diese Sprachenrealität aktiv nutzen und die von den Kindern und Jugendlichen mitgebrachten Sprachpotentiale fördern. Für das einsprachig aufgewachsene deutschsprachige Kind ist die Beschäftigung mit dieser lebendigen Mehrsprachigkeit in Kindergarten und Schule ein authentischer und sehr praktischer Zugang zum Fremdsprachenlernen. Dieses beiläufige Mitlernen der von Freund*innen gesprochenen Sprachen ist dem Kind wesentlich näher als das Erlernen der eher selten hier muttersprachlich genutzten Sprachen wie Englisch oder Französisch. Die Förderung der mitgebrachten Herkunftssprache und das parallele Erlernen der deutschen Sprache fördert das metasprachliche Bewusstsein der Kinder, verbessert die kognitive Entwicklung und erhöht damit die Chance auf bessere Schulabschlüsse. Untersuchungen, unter anderem von Jim Cummins, belegen, dass eine Förderung der vorhandenen Mehrsprachigkeit bei Kindern eine gute Methode ist, diesen einen guten Schulabschluss zu ermöglichen.
In Köln hat Herr Professor Roth von der Universität zu Köln das bilinguale Lernen an der italienisch-deutschen Grundschule Zugweg in Köln evaluiert. Die Untersuchung weist nach, dass durch die Einführung eines bilingualen Zweiges der Anteil der Schulempfehlungen an Gesamtschulen von 16% auf 35% und an Gymnasien von 15% auf 25% gestiegen ist. Gleichzeitig sank der Anteil von Empfehlungen an die Hauptschule von 40% auf 20%. An einer bilingualen Grundschule deutsch/türkisch in Köln-Bilderstöckchen hat sich der Anteil von Gymnasialempfehlungen nach der Einführung des zweisprachigen Unterrichts verdoppelt.
Die Mehrsprachige Kompetenz ist in einer globalisierten Weltwirtschaft eine zentrale Qualifikation – interkulturelle Kompetenz auch
Die Kompetenz, eine zusätzliche Fremdsprache zu sprechen, ist in einer globalisierten Welt eine der zentralen Wirtschaftsressourcen. Darüber hinaus verfügen mehrsprachig geprägte Menschen, auch wenn sie im konkreten Fall die Sprache des Gegenübers nicht sprechen sollten, in der Regel über interkulturelle Kompetenz, das heißt sie sind sensibel sich in andere Kulturen und Denkweisen hineinzuversetzen – sie haben eine multikulturelle Identität und sind flexibler im interkulturellen Agieren.
Die Förderung und Wertschätzung der Herkunftssprache
Von großer Wichtigkeit ist die gleiche Wertschätzung der jeweiligen Herkunftssprache mit der deutschen Sprache. Diese Wertschätzung sowie die gezielte Förderung der Muttersprache ist ein wichtiges Mittel für die Akzeptanz der Sprache und damit ein aktiver Beitrag zur Schaffung von Gleichberechtigung für die sie sprechenden Menschen. Das Beherrschen der Herkunftssprache bildet damit eine wichtige Grundlage zum Erlernen der deutschen Sprache und trägt zu einer erfolgreichen Integration bei.
Hinweis auf rechtliche Regelungen zur Förderung der natürlichen Mehrsprachigkeit
- Teilhabe- und Integrationsgesetz NRW (2012) § 2, Absatz 3: "Das Erlernen der deutschen Sprache ist für das Gelingen der Integration von zentraler Bedeutung und wird daher gefördert. Die Wertschätzung der natürlichen Mehrsprachigkeit ist ebenfalls von besonderer Bedeutung."
- Kinderbildungsgesetz NRW (KiBiz), SGB VIII (2014) § 13c / Absatz 1, Satz 3 und 4: "Die Mehrsprachigkeit von Kindern ist anzuerkennen und zu fördern. Sie kann auch durch die Förderung in bilingualen Kindertageseinrichtungen oder bilingualer Kindertagespflege unterstützt werden."
- Die EU-Kommission hat in ihrem "Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung" von 1995 die Forderung formuliert, dass alle Schulabgänger*innen und Schüler*innen drei Gemeinschaftssprachen beherrschen sollen und dass demzufolge Kinder und Jugendliche im Laufe ihrer Schulzeit außer ihrer Erstsprache noch mindestens zwei weitere Sprachen lernen. Das kann zum Beispiel bedeuten: Deutsch als die Landessprache; als zweite Sprache die Herkunftssprache und Englisch als Weltsprache. Wenn in diese sprachenpolitische EU-Vorgabe die jeweils nichtdeutschen Herkunftssprachen eingebunden werden, dann haben die Schulen eine Perspektive, die den Anforderungen einer Migrationsgesellschaft entspricht.